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Cyborg

(Courtesy of Gucci by Ronan Gallagher)

Liest man die Designphilosophie von Alessandro Michele zu seiner neuen Winterkollektion 2018/19, die er auf dem Gelände des Gucci-Hubs in Mailand in der letzten Woche zeigte, ist man zunächst verstört. Der Designer überschreitet bei weitem, und das schon seit seinem Antritt 2015, das, was man im Allgemeinen der Mode zuordnet – die Oberflächlichkeit. Michele arbeitet mit Zitaten berühmter Philosophen, wie zum Beispiel Michel Foucault, ist literarisch äußerst gebildet und verleiht seinem Werk eine Tiefe, die sicherlich nicht nur manchen Konsumenten auf eine harte Probe stellt, sondern auch die Modejournalisten, die seine Botschaft auf unterhaltsame Weise dem modebegeisterten Kunden näherbringen soll.
Wie wunderbar das als Herausforderung ist, stelle ich bei jeder seiner Kollektionen fest, denn, was sonst als tägliches Einerlei in die Inbox flattert, liefert manchmal keine Herausforderung. Alessandro Michele hingegen fordert einen auf wunderbare Weise und schafft es immer wieder, das Bewusstsein zu erweitern – eine Herangehensweise, die in der Welt der leichten Kost und tragbarer Mode fast vergessen ist.

Courtesy of Gucci by Ronan Gallagher

In einem Zeitalter, in dem die Globalisierung stattgefunden hat und das im Moment beherrschende Thema die Verknüpfung von realer mit virtueller Welt ist, nimmt sich Alessandro Michele genau dessen in seinen Inszenierungen und auch in seiner Mode an. Nicht nur seine Looks sind Lagen aus verschiedenen Epochen, Kulturen, Materialien und verschiedener Stilistiken; er „schichtet“ auch Hoch- & Trashkultur, Film, Comics, Fantasie, Horrorgeschichten, Jugendkulturen und jegliche Art von Kostümkunde übereinander.
Klingt kompliziert, ist aber einfach, da alle Looks so angelegt sind, dass sich jeder raussuchen kann, was am besten zu ihm passt. So sind seine Sneaker, T-Shirts und Basecaps in den letzten Jahren in die Streetwear übergegangen, genau wie sein ikonischer Double-G-Gürtel, den er Vorgänger Tom Ford entliehen hat. Micheles fulminanten, mit fast einem Übermaß an Ideen gespickten opulenten Roben und Brokatsmokings sind der Renner auf den Red Carpets dieser Welt. Von 12 – 99 Jahren hat Gucci und Alessandro Michele jede Zielgruppe mit Must-haves versorgt, weil in der Opulenz so viel Wahlfreiheit steckt, dass er jeden Modeinteressierten mit einer Nuance seiner Entwürfe erreicht. Was in der Gesamtheit für den ein oder anderen übertrieben wirkt, stillt im Einzelnen genau das, wofür Mode steht – der Erfüllung der Sehnsucht sich zu schmücken und sich mit Glamour zu versorgen, der im Alltag manchmal auf der Strecke bleibt. Ist die Realität manchmal hart, will man sich, ich sage es mal provokant, ein wenig kostümieren, um die Realität zu vergessen.
Recht geben Alessandro Michele die rasanten Umsatzzuwächse und wem es nicht gefällt, da seien wir mal ehrlich, bleibt genug Wahl im großen Portfolio der Luxusmarken.

Courtesy of Gucci by Ronan Gallagher

In einem spacigen, an ein Labor oder großen Operationssaal erinnerndem Dekor, das auf irreale Weise clean erscheint, geht Alessandro Michele dieses Mal noch eine Stufe weiter und setzt die Erfindung und Erschaffung der eigenen Identität und des Geschlechtes und dem, was der Einzelne sein möchte, als Thema ein. Micheles Kollektionen und Themen sind wie gigantische Denkprozesse eines Philosophen, der nur Grenzen überschreiten will und nicht ständig die eigenen Grenzen neu abstecken möchte. Er setzt in der Realität fort, was in der virtuellen Welt längst stattfindet. Wie wir in einer App oder einem Bildbearbeitungsprogramm uns ständig verändern können, versucht er das in die reale Welt der Mode und der Textilien und Accessoires zu übersetzen. Und so schafft Michele bildhaft einen Typus, den „Gucci Cyborg“, der mit all diesen Elementen zwischen Traum und Wahrheit, Mensch und Fantasiewesen spielt.

Der „Gucci Cyborg“ ist posthuman: Er hat Augen an seinen Händen, Faunhörner, Drachenwelpen und Doppelköpfe. Er ist eine biologisch nicht bestimmbare und kulturbewusste Kreatur. Die ultimative pluralistische Identität, die sich ständig verwandelt. Ein Symbol für die Möglichkeit, zu dem werden zu können, was wir sind.
Das Bewusstsein darüber, wie soziale Strukturen funktionieren und wer wir sind, eröffnet ein Forschungsfeld. Ein Feld der Freiheit und Verantwortlichkeit, in dem jeder zu dem werden kann, was er wirklich sein möchte – und das, indem er soziale Erwartungen und persönliche Wünsche zurück ins Spiel bringt.
Die Subjektivitäten, die Guccis „Universum“ verkörpern, bewegen sich in einem Bereich, der ethisch und politisch zugleich ist. Sie sind als Einladung zu verstehen, abzuweichen und nicht mit eindeutigen Identitätsmodellen konform zu gehen, sondern andere Denkweisen über uns selbst zu ermöglichen, die voreingestellte Kategorisierungen durchbrechen. Was in dieser Hinsicht für normalisierte Augen atypisch, anormal und fehlerhaft erscheint, erhält eine neue Legitimität. Ein neuer Atemzug – und die Bestätigung des eigenen Selbst und seiner Einzigartigkeit.

Eine unendliche Toleranz, die sich vielleicht Alessandro Michele für diese Welt wünscht. Das ganze drückt sich auch in seiner Mode aus, die, wie in den Bilderbüchern unserer Kindheit, in denen man Kopf, Mittelteil des Körpers und das Unterteil verschieden kombinieren konnte, immer wieder neue Looks ergibt. So gibt es Kopfputze aus allen Kontinenten, wie Pagodenhüte, nordafrikanische Turbane, aserbaidschanische Paillettenkopftücher oder auch Rapper Caps oder Baseball Beanies aus der Streetwear. Von Tracksuits, britische Klassikermäntel, „Paramount Film“-Pullis, Paillettenkleider, Sneaker, cleane Hosen mit überladenden breiten Sakkos und bis hin zu Priestergewänderm wird alles miteinander gemischt.
Wenn man sich die Looks anschaut, entdeckt man immer wieder neue Details und man muss alles dechiffrieren und wieder auseinandernehmen – erst dann fällt auf, dass es Michele nicht mehr um die gezeigten Runway-Kombinationen geht, sondern dass sich der Prozess eigentlich immer weiter fortsetzt, wenn der Kunde (ich gebe zu, das ist ein wahnsinnig hoher Ansatz und überfordert manchen Konsumenten) seine Lieblingsteile wählt und zu seinem eigenen Look zusammenstellt. Die Mode bei Alessandro Michele setzt sich immer fort und hört nicht wie bei anderen mit der Vorstellung der Modelle auf, sondern setzt dann erst ein. Im Grunde genommen immer wieder ein Erschaffungsprozess, der sich dann wieder aufnimmt, wenn man schließlich und endlich das Teil recycelt. Und das ist die Quelle, aus der Michele dann wieder inspiriert wird, denn seine Schöpfungen sind ja alle aus den Objekten der Tausende Jahre alten Kostümgeschichte zitiert und auf die heutige Zeit übertragen. Wie ein unendlicher Fragenkatalog an die Vergangenheit und die Zukunft.

Es gibt für Alessandro Michele scheinbar in der Mode keine Grenzen! Er fordert sich und uns mit jeder Kollektion unendlich heraus, weiterzudenken, hat sicherlich einen wahnsinnig hohen Anspruch an sich selbst, auch wenn er immer so ungeheuer lässig und unkompliziert wirkt. Sein Anspruch ist hoch und er will es uns nicht leicht machen, denn er beweist, dass Mode sehr komplex und nicht im entferntesten Sinne oberflächlich ist. Seine Kollektionen sind kompliziert! Sollen sie auch sein! ‚Einfach‘ gibt es jeden Tag, seicht und ohne Niveau, leicht konsumierbar und kommerziell. Dass es auch anders geht, will Alessandro Michele beweisen und das bis zur Steigerung bis an die Schmerzgrenze des guten Geschmackes.

Gucci und Alessandro Michele beweisen, dass Mode auch anders geht und man alle Grenzen überschreiten kann und dass es für sie scheinbar genau der richtige Weg ist. Was keiner wagt, gibt ihnen recht. Keine andere Firma geht diesen Weg und er ist – trotz von vielen angestrebt – nicht kopierbar.
Das liegt an einem Kopf, ähnlich wie bei Chanel Karl Lagerfeld. ‚Alessandro Michele‘ heißt das Zauberwort bei Gucci und alles scheint aus seinem Kopf herauszusprudeln. Eine neue Dimension der Mode, deren Fortsetzung spannend bleibt.

  • thomash
    5. März 2018 at 13:45

    FANTASTISCH! Erst der schlaue Text und dann die Bilder verschlagen einem den Atem. Das alles ist so modern, dass es wirklich von heute ist. Bin sehr begeistert, danke für das Erlebnis!

  • Maximilian
    8. März 2018 at 01:31

    Toller Text, Kompliment.