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Le Palace, Paris – Guccis Theater der Widersprüche Frühling/Sommer 2019

(Gucci Frühling/Sommer 2019; Foto: Dan Lecca)

Die Mailänder Modewoche scheint in Rekordzeit verflogen zu sein und schon zieht das Modevolk nach Paris. Etwas verwirrend wirkt es in diesem Jahr, dass Alessandro Michele im Zuge seiner diesjährigen Hommage an Frankreich seine gemeinsamen Gucci Damen- und Herrenkollektion für die Frühling/Sommer-Saison in Paris zeigte. Dieser Schritt kostete Mailand ein Highlight und zeigte auch, dass sich Paris immer stärker für die internationalen Einkäufer und Journalisten positioniert. Michele schließt damit den Reigen ab, den er im Mai in Arles mit einer stark von der römischen Tradition geprägten mystischen Kollektion fortgeführt hatte. Auch wenn der Designer in Frankreich zeigt, transportiert er auch dieses Mal italienische Kultur und viele historische und kostümgeschichtliche Einflüsse und bleibt sich in der höchst komplexen Kompliziertheit treu.

Alessandro Michele hat einen eigenen Stil kreiert, der sich, die Kritiker werfen es ihm vor, nur in Nuancen verändert. Der aufmerksame Betrachter sieht aber, dass – trotz Schichtenlook und oberflächlichem Kostümball – der Einfluss auf die gesamte Mode immens und der wirtschaftliche Erfolg enorm ist. Warum auch immer, Michele bedient gigantische asiatische Märkte mit Opulenz und schafft es, sich in jeder Zielgruppe und Altersklasse zu etablieren. Ob Sneaker und „Doppel G“-Logogürtel in der Streetwear oder opulente Abendroben auf den Red Carpets in Einzelteile zerlegt – seine Kollektionselemente gehen in völlig anderem Kontext wie warme Semmeln über die Ladentheken.

Liest man die Pressemitteilungen zu den einzelnen Gucci-Modenschauen, ist man immer ein bisschen zwischen dem Gedanken des intellektuellen Irrsinns und der Genialität hin- und hergerissen. Die Texte sind nichts, wo man einen Praktikanten ransetzen sollte. Doch das profunde Wissen der verschiedenen Kulturen – gleich, ob Trash- oder Hochkultur, Literatur oder Musik – der stille Alessandro Michele ist intelligent und fördert Wissen indirekt an den Konsumenten, der den meisten auch auf andere Weise nie begegnen würde. Dieses Phänomen erinnert ein bisschen an Karl Lagerfeld – bei Alessandro Michele gibt es den Kulturmehrwert gleich zu den Prêt-à-porter-Kollektionen dazu. Tiefgründiges Verpacken in die moderne Konsumwelt der Mode, darin ist der Designer ein Meister.

„Le Palace“; Gucci Frühling/Sommer 2019; Foto: Dan Lecca

In seinen Modeschauen als Kreativdirektor von Gucci zeigt Alessandro Michele mehr als nur eine Auswahl an Kleidern, er kreiert regelrechte künstlerische Happenings. Bei der jüngsten Show in Paris am Montag machte er von dieser Regel keine Ausnahme und bringt italienische Avantgarde Theatergeschichte mit ein. Überblendungen und Schichtungen, italienische Theaterform mit der legendären Location, dem kultigen Club „Le Palace“, verknüpft – dem europäischen Pendant zum Studio 54 und Schauplatz der Pariser Jeunesse dorée der 1970er- und 1980er-Jahre. Das „Le Palace“ erlebte legendäre Feste wie den venezianischen Ball der Clique um Karl Lagerfeld und Yves Saint Laurent, Jean-Paul Gaultier, Thierry Mugler, Claude Montana feierten hier und Kenzos Disney-Party fand hier statt – kein Ort steht in Paris so für das Vergnügen der Modeszene der letzten 40 Jahre.
Mit der Frühling/Sommer-Kollektion gab Alessadro Michele den Modejournalisten mit dem Avantgarde-Theaterduo Leo de Berardinis und Perla Peragallo als Motto eine verwirrend anspruchsvolle und nicht leichte Kost zur Aufgabe – mit der Absicht, Mode den oberflächlichen Ruf zu entreißen.

Leo de Berardinis und Perla Peragallo waren die leidenschaftlichsten und grenzüberschreitendsten, die dekadentesten und außergewöhnlichsten Dioskuren des experimentellen italienischen Theaters. Ihr „Theater des Widerspruchs“ war ein Ort des permanenten Dissens; ein Ort, an dem sie radikale gesellschaftliche Alternativen propagierten. Die Idee ihres Theaters ist die Herausforderung von Stagnation, Konformismus und Macht. Ein anarchistischer und liberaler Blick auf den Fluss des Lebens.

Für Leo und Perla kann Theater nicht bloße Show sein, denn Show ist lediglich die Ästhetisierung des bereits Bekannten, eine tödliche, passiv wahrgenommene Reproduktion. Theater muss stattdessen als „Ur-Kunst kollektiven Wissens, Horrors und Lebensfreude betrachtet werden, als Laboratorium, in dem in vereinfachten Szenerien der Komplexität des Lebens nachgeforscht wird“.

Die Show begann mit genau den Zitaten, der Inszenierungen des Duos, episches Theater mit schreienden und stöhnenden Schauspielern, die an die Gemälde des Jüngsten Gerichts mittelalterlicher Maler und (fast) an apokalyptische Szenen erinnern. Alessandro Michele führt den Betrachter gern in verstörende Welten; vielleicht denkt er, dass Kultur auch immer ein bisschen weh tun, aufrütteln und eine parallele Welt beinhalten muss, um ernst genommen zu werden.

Die Inszenierung im „Le Palace“ erinnerte an ein klassisches Vaudeville Theater der Jahrhundertwende in Paris. Samtstühle im Stil von Napoleon III., in engen Reihen zusammengestellt, an denen die Models in den Looks defilierten, um auf der Bühne ein Teil des Dekors zu werden.

Die Gucci-Kollektionen setzt die seit 2015 kontinuierlich aufgebaute Linie Alessandro Micheles für das Haus fort und denkt seine Typologien, die er parallel verfolgt, immer einen Schritt weiter. Ob viktorianische Adelskleidung, Dapper Dan Dandies, Skin- und Punkzitate oder Renaissance Prinzessinnen, die einfach ihre Roben gegen Tracksuits getauscht haben. Das Ganze wird mit Elementen der Trash- und Popkultur gewürzt. Handtaschen mit Disneys Mickey Mouse, Bomberjacken mit Nashville-Motiven, Backpacks zu Bankeranzügen, die wie eine Transformation im Candyautomaten mitgemacht haben. Jahrhunderte und Lebensbereiche lässt Alessandro Michele durcheinanderpurzeln. Was wie zusammengerafft und übergeworfen wirkt, ist feinstes Kalkül und die Sprache des Designers. Sportswear und Tracksuits, feinste Couture Spitzenroben und SM-Accessoires werden mit barocker Üppigkeit gemischt – ein Konzept, das er zur Methode gemacht hat.
Nur gefühlt rudert Alessandro Michele dann doch in etwas betonterer Schlichtheit zurück. Das Bild der Einzelteile wird ruhiger. Jane Birkin, die als Chansonsängerin, wiederum von ihm als Hommage an die rebellische 68er-Bewegung, die in diesem Jahr fünfzigjährigen Jahrestag feiert und wie keine andere Künstlerin für Paris steht, intonierte „Baby alone in Babylone“ ihres verstorbenen Mannes Serge Gainsbourgh, den Michele in seinen Modellen zitiert. Das babylonische Treiben bekam dadurch sentimentale Momente. Kulturen müssen crashen – ein genial dramaturgischer Schachzug, des Gucci Kreativdirektors.

Der Kult seines Stiles und seiner Handschrift ist das er sich einfach gestattet, das, was seiner Fantasie entspringt zu realisieren mit totaler Missachtung aller bisherigen Stilregeln und übereinander schichtet, was jeder Marketingabteilung die Haare zu Berge stehen lassen würde. Dabei ist sein Antikonformismus voller Intelligenz und er umspannt sein breites Wissen und seine tiefe Kenntnis aller Schichten von Kulturen. Jede Idee ist fundiert und der Kenner spürt die Geschichte dahinter. Seine häufig missinterpretierte Philosophie, dass man praktisch alles kombinieren kann? Weit gefehlt! Es bedarf schon etwas über das Einzelstück hinaus, einer sicheren Hand und dem Erkennen der indirekten Zusammenhänge, wie man es kombiniert. Das entscheidet weder das Portemonnaie noch die Wahllosigkeit, wie man manchmal auf Instagramposts von Asiaten vermutet, Michele hat eine feinsinnige Art, die Tiefen der europäischen Kultur auf dem subtilen Weg über seine Fashion zu verbreiten, ohne dass es der Konsument merkt. Das ist seine Philosophie, die vielleicht der versteckte Schlüssel ist, um in nur drei Jahren Gucci zu einer der wirtschaftlich erfolgreichsten Brands zu machen.

Ob man seine Linie mag oder nicht, die Fashionwelt braucht jemanden wie Alessandro Michele, weil er begriffen hat, dass Mode sonst in den Konzernen zu Einbahnstraßen wird. Lieber über das Ziel hinausschießen, als sich nur dem Markt unterzuordnen – schon Karl Lagerfeld konstatierte vor dreißig Jahren: „Man darf nicht an die Zielgruppe denken, sondern muss das machen was man will, dann kaufen es die Leute schon, wenn sie eine Konfektionsgröße haben, dass sie darein passen.“ Und Herrn Lagerfeld verehrt Monsieur Michele ja sehr …

  • Siegmar
    26. September 2018 at 23:55

    Der Artikel von Peter ist großartig, die Kollektion muss man dann tatsächlich real sehen. Das SM-Zeug ist schon heftig.

  • Peter Kempe
    27. September 2018 at 00:42

    Danke lieber Siegmar! Kein leichter Tobak aber die gedanklichen Sprünge faszinieren dann doch immer wieder. Er steht halt für eine Facette, wie der Zeitgeist die Mode gerade verändert.

  • Monsieur Didier
    30. September 2018 at 10:59

    …der Artikel ist, wie gewohnt, sehr sehr gut…
    ich kann nur leider mit Alessandro Michele und seinen Gucci-Visionen gar nichts anfangen…
    Maskenball, überflüssig, oder sogar, spätestens hier entlarve ich mich als Nichtkenner, Nichterkenner und böse Lästerzunge:
    für mich ist das reine Resourcenverschwendung für ein verwöhntes, sattes, übersättigtes Fashionvolk…
    warum nur???

  • Vk
    30. September 2018 at 18:30

    Klasse Text!
    Besonders auch deine Passage zu ‘anything goes’’. Sehe ich genauso. Und ich fuehle mich persönlich auch immer sehr berührt und inspiriert von seiner Art feinstofflicher Collagen. Auch und gerade wenn und weil man es mir nicht ansieht, Michele inspires my world. Auch diesmal wieder.

  • Horst
    1. Oktober 2018 at 17:42

    Ich mag es, vielleicht auch, weil es immer irgendwie gleich ist (das mag ich bei Slimane übrigens auch…)