Interview

Berlin kann schlimm riechen

(Ted Young-Ing und Stefan Kehl; Bild: AER)

4.533! Es klingt unglaublich, aber lt. der Online-Community „Parfumo“ wurden allein im Jahre 2017 4.533 neue Düfte auf dem Markt gebracht. Natürlich verschwindet ein Großteil dieser Neuerscheinungen nach wenigen Saisons, nur die wenigsten überdauern einige Jahre und noch viel weniger haben das Zeug zum Klassiker.
Kaum Marketingbudget, keine großen Werbegesichter – Nischendüfte haben es im Verhältnis zu den Duft-Blockbustern naturgemäß schwerer, sich am Markt zu behaupten. Dabei sind es doch gerade die kleinen, feinen Düfte, die sich ganz besonders lohnen, entdeckt zu werden.

Vier von den 4.533 Düften, die 2017 lanciert wurden, sind von dem Berliner Label „AER Scents“. Seit Ende 2017 kreieren Stefan Kehl und Ted Young-Ing in ihrem Atelier in Mitte ihre Unisexdüfte. Nun kommen zwei Düfte, die die Gründer in Akkorde aufteilen, hinzu: Accord No.5 White Pepper und Accord No.6 Ylang Ylang. Grund genug, für ein Gespräch mit Stefan Kehl und Ted Young-Ing.

Schön, dass Sie sich Zeit für ein Zeit genommen haben. Ich habe gelesen, dass Sie sich bei Ihren Duftkreaturen von Berlin inspirieren lassen. Daher die Frage: Wie riecht die Hauptstadt?
Das stimmt, wir lassen uns von den modischen Strömungen, die es in Berlin gibt, leiten, weniger jedoch davon, wie die Stadt riecht, denn Berlin kann recht schlimm riechen. Jeden Morgen begleitet uns ein reizender Uringeruch in der U-Bahn, das ist natürlich weniger toll …

Wo wir beim Thema wären – was fasziniert Sie denn an guten Düften?
Faszinierend finden wir Düfte, genauer gesagt: Duftmoleküle, die in uns Erinnerungen und Gefühle hervorbringen. Insbesondere natürlich wachsende Rohstoffe – die wir ausschließlich verwenden – sind durch die Evolution auf unsere Rezeptoren abgestimmt. In anderen Worten, die emotionale Reaktion, die wir mit unseren Parfüms beobachten können, sind meist intensiv und schön.

Stefan Kehl; Bild: AER

Wie kommt man auf die Idee, eine Parfümmarke zu gründen?
Stefan Kehl: Als ich mich intensiv mit natürlichen Essenzen zu beschäftigen begann, war ziemlich schnell klar, dass ich diese Faszination am liebsten mit jeder Menge Menschen teilen wollte.
Ich habe für mich erkannt, wie gut es ist, die oben beschriebenen Reaktionen, wann immer ich möchte, wieder zu erleben und darüber hinaus die positiven Effekte auf Gesundheit und Seelenheil erfahrbar zu machen. Ich weiß, das klingt jetzt etwas esoterisch, ist aber eine logische Erkenntnis, wenn man sich vor Augen hält, wie die olfaktorische Wahrnehmung des Menschen funktioniert. Der erste Sinn, den ein Embryo entwickelt, ist in der Tat der Geruchssinn. Die erste Leitlinie durch ein junges Leben ist der Geruch – und genau da geschehen die kleinen olfaktorischen Wunder, die wir beobachten!
Wenn ich mich aber umschaue, gibt es wider Erwarten fast gar keine Parfümmarke, die so konsequent wie wir natürliche Essenzen verwendet. Ganz im Gegenteil – das, was uns als ’natürlich‘ verkauft wird, ist, wenn man es so streng sieht, wie wir es sehen, eben nur ’naturidentisch‘, also ‚im Labor nachgeahmte Natur‘.
Ich glaube, das erklärt, warum die Zeit reif ist für eine Idee wie unsere!

Wie haben Sie sich gefunden?
Stefan Kehl: Wir sind seit Jahren Freunde. Als ich nach ein paar Jahren in New York City zurück nach Deutschland kam, kreierte ich für Ted ein Parfüm, welches so gut gefiel, dass wir uns vorstellen konnten, diese Marke zu etablieren.

Jeder von uns hat vermutlich Düfte, die einen immer im Gedächtnis bleiben – das kann der Geruch von Waschmittel sein, von der Großmutter oder von Sommer – welche Düfte haben Sie geprägt?
Ich bin zwar nicht wirklich ein Kirchgänger, aber als Kind musste ich öfter. Das Einzige, was ich faszinierend fand, war der Weihrauch.
In unserem „Accord No.04: Cedar“ verwenden wir ein Zedernöl, welches jeden sofort an Bleistift anspitzen in der Schulzeit erinnert!

Welchen Duft von AER nutzen Sie selbst am liebsten?
Accord No:04 Cedar und Accord No:05 White Pepper.

Einer meiner ersten Düfte war „Le Male“ von Jean Paul Gaultier. Doch wie war Ihr „Duft-Lebenslauf“?
Stefan Kehl: Ich habe unwahrscheinlich tolle Erinnerungen an L’Eau d’Issey von Issey Miyake. Und sehr elegant empfand ich lange Terre d’Hermès.
Ted Young-Ing: Mein Vater benutzte Aramis, ich selber benutze oft Grey Flannel von Geoffrey Beene.

Wenn Sie einen neuen Duft entwickeln, wie können wir uns das vorstellen?
Ich habe Inspirationen. Kreation ist ein ganz intuitiver Prozess. Ich lasse mich auf eine Idee, die beim Experimentieren mit verschiedenen Materialien entsteht, ein oder ich habe eine Idee, die mich nicht mehr loslässt. Bei Accord No:5 White Pepper zum Beispiel, verfolgte ich bewusst ein Konzept. Ich wollte einen Sommerduft kreieren, der ausschließlich mit Inhaltsstoffen gearbeitet ist, die einen „trockenen“ und „grünen“ Eindruck hinterlassen, gerade so wie eine alpine Sommerwiese – würzig, pfefferig, süß, trocken und warm.

… spielen Trends dabei eine Rolle?
Nein. Nicht bei uns.

Die Düfte von AER sind „vegan“ – was kann ich mir darunter vorstellen?
Vegan ist zunächst einmal frei von tierischen Inhaltsstoffen. In der klassischen Parfümerie werden noch heute tierische Produkte verwandt. Biebergeil, „Castoreum“, ist ein Sekret vom Bieber, Moschus kommt vom Moschustier, was ebenfalls ein Drüsensekret ist. Diese Inhaltsstoffe sind in Verwendung, weil sie zum einen andere Duftstoffe sehr gut fixieren und weil sie durch ihre komplexe Struktur dem Parfüm Körper und Tiefe geben.

AER ist unabhängig von den großen Duftkonzernen. Was ist der Vorteil?
Wir können uns voll auf unsere Nischenkompetenz konzentrieren, welche die einzige Sparte mit Wachstum ist!
Wir stehen für eine wirklich moderne Interpretation von klassischem Parfümhandwerk mit ausschließlich natürlichen, pflanzlichen Rohmaterialien. Das ist derzeit wirklich neuartig und selten. Ein Konzern könnte uns das nicht ermöglichen. Wir könnten keine natürlichen Inhaltsstoffe benutzen, da wir gleich auf Massenproduktion umstellen müssten. Zudem könnten nicht mehr diese ausdrucksstarken Parfüms kreieren.

Haben Sie schon mal mit dem Gedanken gespielt, Pflegeprodukte wie Creme ins Portfolio aufzunehmen?
Das ist zum Beispiel oft der Fall, wenn Konzerne andere Marken kaufen. Wir sind derzeit darauf fokussiert, unsere Parfüms mit allerhöchsten Qualitätsansprüchen herzustellen und zugänglich zu machen. Aber möglich ist alles.

Gibt es noch einen Tipp, den Sie unseren Lesern beim Parfümkauf mitgeben können?
Wir finden, dass es wichtig ist, unsere Parfüms auszuprobieren und dann zu beobachten, was geschieht …

Ich danke für das Gespräch!

AER Scents zeigt übrigens Transparenz, indem alle Inhaltsstoffe auf der Flasche aufgeführt werden.
Wer sich selbst einen Eindruck über die AER-Düfte verschaffen möchte:
„Nagarmotha“ ist ein exotischer, starker und würziger Duft, während „Cade“ eher als rauchig-feurig beschrieben werden kann. „Ambre“ ist hingegen leicht süßlich und verführerisch und „Cedar“ frisch, mit einer süßlichen Holznote.
„White Pepper“ zeichnet sich durch seinen würzigen mit Tabak verfeinerten Duft aus. „Ylang Ylang“ wartet mit floralen aber auch frischen Noten auf.