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Marseille – Mon amour Méditerranée!

(Bild: Thomas Kuball)

Dreckig, kriminell, runtergekommen … Ach, es fallen einigen Menschen nur negative Eigenschaften zu Marseille ein. Mir hingehen geht die Fantasie schon nach Dreien aus. Hingegen bei den positiven kann ich mich kaum retten!
Aber damit das hier nicht nur eine Aneinanderreihung von Adjektiven wird, möchte ich euch hier gern ein Marseille zeigen, dass mich bei jedem Besuch auf‘s Neue berauscht und in seinen Bann zieht.
Mein erster Besuch liegt gefühlte 1.000 Jahre zurück und hat tatsächlich noch in einem anderen Jahrtausend stattgefunden und, ich bin ja immer ehrlich, ja, der damalige Eindruck war dreckig, kriminell, runtergekommen. Wohl aus dem Grund habe ich auch jahrelang einen weiteren Abstecher hierher vermieden, bzw. Marseille lag überhaupt nicht in meinem Fokus, trotz vieler Provence-Urlauben über all die vergangen Jahre. Umso dankbarer bin ich meinen Freunden Britta und Andreas, die Peter und mich vor gut vier Jahren überredet haben, doch einen gemeinsamen Tag dort zu verbringen.
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Bild: Thomas Kuball

2013 stand Marseille als eine der zwei Kulturhauptstädte Europas ganz in diesem Zeichen. Gut geübt in Kultur, denn die Stadt, die ihren Ursprung schon im 7. Jahrhundert VOR Christi Geburt fand, bietet somit also schon Kultur aus weit mehr als zweieinhalbtausend Jahren und hat per se schon Unglaubliches zu bieten. Aber das kann man alles beim Wikipedia & Co. nachlesen.
Ich bleibe in der Neuzeit, im Juni 2013, der Tag an dem das Mucem (Musée des Civilisations de l’Europe et de la Méditerranée) des französischen Architekten Rudy Ricciotti offiziell dem Volk übergeben wurde. Wie es schon dastand mit seiner architektonisch überwältigenden Fassade aus einem grafitfarbenen Wirrwarr von, hmm ja, eigentlich schaut es ein bisschen wie eine quadratisches Gehirn von außen aus. Ja, genau! Und dieses Gehirn-Gebilde hat mich sofort in seinen Bann gezogen und wir haben uns mit Wogen von Menschenmassen über die Eisenbrückenkonstruktionen bis auf die Dachterrasse geschoben. An ein Reinkommen ins Gebäudeinnere war gar nicht zu denken, aber das brauchte ich auch nicht, denn das, was mir hier geboten wurde, hat mich schon so fasziniert und bis heute nicht mehr losgelassen und bei jedem meiner Stippvisiten stehe ich mit großen Kinderaugen staunend vor dem Mucem und knipse immer wieder neue Fotos – gut, dass man heute Dank der Technik den Farbfilm nicht mehr vergessen kann!
Dieses Bauwerk, und alles, was ich seit dem Tag von Marseille gesehen und hier erlebt habe, begründet meine Liebe zu dieser einzigartigen Stadt am Mittelmeer.
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Bild: Thomas Kuball

Schon die Fahrt via Marignane, wo der Flughafen von Marseille so gut 20 km nördlich liegt, ist ein wahres WOW! So kommt man auf der A55 durch einen letzten Felsen und dann liegt es auf einmal vor einem – mit all seiner Weite, dem Mittelmeer, dem Hafen mit seinen vielen Schiffen, den Bergen im Hintergrund, der Notre Dame de La Garde, dem Château d’If und den anderen vorgelagerten Inseln und dem schon von weitem herausragenden von Zaha Hadid entworfenen „Tour CMA CGM“ aus dem Jahr 2011. Hat man diesen futuristischen Turm mit verdrehtem Hals auf dem abenteuerlichen Autobahn-Viadukt passiert, geht es ab in den „Keller“.
Ohne diesen Tunnel gäbe es keinerlei Durchkommen durch Marseille. Er bohrt sich über viele Kilometer mit je zwei Spuren pro Richtung unter der gesamten Stadt unterdurch, aber von einem täglichen Elbtunnel-Chaos ist man weit entfernt – die Devise heißt hier: leben und leben lassen.
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Bild: Thomas Kuball

Ausfahrt Vieux Port, das ist die meine. Spätestens jetzt stehen mir vor Glück das zweite Mal die Tränen in den Augen, wenn ich den Yacht-Hafen, inmitten zwischen den zwei Altstadt-Arrondissements in seiner Lagune vor mir erblicke.
Den Quai de Rive Neuve entlang (diesen hat so fast jeder von uns während der EM in den Medien kennengelernt – Fußball-Hooligans aus England und Russland haben diese Promenade und die an ihr liegenden Cafés, Bars und Restaurants wahrlich in ihre Bestandteile zerlegt, nur eine Woche nach der offiziellen Eröffnung, rechtzeitig für und zur EM 2016 – ja, es gib leider doch kriminelle Kräfte in Marseille!).
Mich sattsehend an den Tausenden Masten von Segelboten und der grandiosen Hafen-„Skyline“ des Architekten und Städteplaner Ferdinand Pouillon aus den 1950er Jahren, dazwischen das Hôtel de Ville aus dem 18. Jahrhundert eingebettet und glücklicherweise von den deutschen Besatzern und ihrer „Säuberung“ des Panier-Viertel in den 40er Jahren verschont geblieben. Ebenso das Hôtel Dieu, inzwischen zum 5-Sterne Interconti-Hotel umgebaut, oder ein wundervoller Renaissance-Bau, welcher in den 50er Jahren den letzten Jahrhunderts einfach mal im Ganzen um 90 Grad gedreht wurde, damit es sich auch im seinem hohen Alter besser an die neuzeitlichen Gebäude anpassen konnte. Knapp 2.000 andere Gebäude wurden von den Nazis damals leider plattgemacht, angeblich u.a. wegen Seuchengefahr – komisch, es scheint mir, als kommt das Böse immer von außen nach Marseille?!
In Wahrheit hatte sich hier im Gewirr der engen Gassen ein großer Teil Résistance verschanzt und von hieraus agiert. Der hintere Part dieses sich nach Norden ausstreckend wundvollen Korbmacher-Viertels (Panier=Korb) ist dank dem rechtzeitigen – naja, rechtzeitig ist hier eigentlich der falsche Begriff – Erscheinen der Alliieren erhalten geblieben und wird jetzt endlich nach und nach saniert – gerade noch, jetzt angebracht, rechtzeitig, bevor er in sich selbst verfallen würde.
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Bild: Thomas Kuball

Es gibt hier wahrlich unzählig viele kleine Gassen mit dem einen und anderen „hippen“ Ladenlokal, neben dem offiziellen Treffpunkt von Compostela-Pilgern, großartigen Graffitis, italienischen Nächten in Form von Wäschleinen an so fast jedem Haus, originellen Handwerksbetrieben, kleinen „Magasin d’alimentation“ oder Cafés auf dem Place de Lenche, wo ein buntes Treiben aus Einheimischen und Touristen herrscht und immer Zeit für einen Petit Café oder, zu jeder Tageszeit hier präsent, Pastis findet. Alles noch ein bisschen alternativ schmuddelig, aber abwarten! In einigen Jahren wird es sich wohl zum Pendant des 20. Pariser Arrondissement Belleville entwickeln.
Das Panier-Viertel bildet nämlich das Bindeglied zwischen Vieux Port, dem Mucem und seiner danebenliegenden Villa Mediteranée, dem Musée Regards de Provence, der Cathédrale le Major und der neuentstehenden Shopping- und Flaniermeile an der Joliette mit seinen zu Einkaufszentren umgestaltenden Kreuz- und Mittelmeerfähren-Terminals und alten Lagerhallen à la Fünf-Höfe, Stilwerken & Co.
Ich brauch diese Zentren wahrlich nicht, aber Marseille tut dieses Upgrade sehr gut – optisch schon jetzt und kommerziell hoffentlich auf lange Sicht auch. Hier entwickeln sich Hotels, Appartements, Büros mit Agenturen jeglicher Couleur, Boutiquen, Restaurants und Cafés zusehends.
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Bild: Thomas Kuball

Als weitere Verbindung zwischen diesem Stadtteil und dem eigentlichen Geschäftszentrum von Marseille an der Ostspitze des Vieux Port erstreckt sich über gut 2,5 km die Rue de la République mit unglaublich imposanten und frisch renovieren Fin de Siecle Bauten ganz im Hausmann-Stil, so dass man sich auf den ersten Blick Mitten in Paris wähnt. Drücken wir bitte alle die Daumen, dass die Franzosen sich anstrengen und wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen, damit all diese wunderschönen Bauten auch im Erdgeschoss ihre Mieter finden – noch stehen sie leider überwiegend leer. Wir sind ja mit dem Thema Laden durch, sonst würde ich hier sicherlich die passende Fläche finden.
Vieles erinnert mich sehr, gerade an den Off-Locations, an Berlin in den 1990er Jahren – überall tut sich was und alles ist im Aufbruch, was man auch den „Marseillaises“ sehr anmerkt. Die Menschen sind hier extrem freundlich, tragen in der Regel ein Lächeln im Gesicht und sind eher respektvoll im Umgang miteinander als „buff-baff“, was man eigentlich in rauen Hafenstädten vermutet.
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Bild: Thomas Kuball

Ein weiteres Must, dass auf keinem meiner Marseille-Besuch fehlt, ist der im La Maison Empereur, DEM tollsten und originellsten Gemischtwarenladen, den ich je in meinem Leben betreten habe und der wohl als Grundlage für das, was in Deutschland Manufactum darstellt, gedient hat. In diesem sich über mehrere Häuser und Eingänge verteilten Geschäft, welches seinen Ursprung im Jahre 1827 fand, wird einem einfach Alles geboten und ich finde auch immer etwas, was mir doch gerade noch fehlt, sei es ein Nagel, ein Saint James Streifen-Shirt, Petanque-Kugeln (um die schleiche ich allerdings schon seit einem Jahr drumrum) oder dem tollsten Staubwedel mit Horngriff, der sofort mit musste. Außerdem gibt es hier eine grandiose Topfabteilung mit allem was des Koches Herz höher hupfen lässt – von der kleinsten Kasserolle bis hin zum überdimensionalen Kochtopf, der sicherlich noch heute von Kannibalen regelmäßig geordert wird – es gibt so fast alle Produkte ganz im Zuge der Neuzeit auch im Online-Shop.
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Bild: Thomas Kuball

Weiter geht mein Bummel via Klein-Algerien mit seinen Obst, Gemüse und Lebensmittelläden für die Maghrebians Mitten im Zentrums von Marseille (gut 40% der Bevölkerung hat einen nordafrikanischen Migrationshintergrund), an unendlichen vielen Boutiquen und Geschäfte in den Haupt- und kleinen Nebenstraßen zwischen La Canebière, Rue de Rome, Rue Paradis, der Rue Breteuil und Rue de Grignan vorbei, wo sich auch die großen Namen wie Hermès, Louis Vuitton, Kenzo, Armani, Lacoste&Co angesiedelt haben.
Diese dürfen in einer Fast-Millionen-Metropole sicherlich nicht fehlen, wobei die kleinen Boutiquen natürlich immer das Salz in der Suppe ausmachen.
Eine Entdeckung, die ich jedem ans Herzlegen möchte ist zum Beispiel „les garçons faciles“ in 19 Rue Venture – danach möchte man kein anders Polo mehr tragen! Ok, Lacoste läuft hier wie immer außer Konkurrenz.
Oder „allanjoseph“, wo sich Labels wie Comme des Garçons, Golden Goose, Officine General oder Zespa für Mädchen als auch Jungs die Hand geben. Das ganz schön leger und unprätentiös, wie es sich für eine Stadt am Meer mehr schickt, in einem oberlichtdurchfluteten Shop in 21 Rue de Sainte präsentiert.
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Bild: Thomas Kuball

Der Mensch lebt aber ja nicht nur vom Flanieren oder Brot allein, also darf ein Déjeuner nicht fehlen.
Paris ist nicht nur in der Rue de La Republique in Marseille Zuhause, sondern auch und fast noch mehr im Café de La Banque nahe der Préfecture und dem amerikanischen Konsulat. Auch hier, genau wie in Saint-Germain-de Près, mittags einen Tisch auf der Terrasse zu ergattern, kommt ohne Reservierung einem 6er im Lotto gleich und die Kellner/innen im klassischen Schwarz-Weiß wirken im ersten Moment ähnlich wie in der französischen Hauptstadt – geschäftig und kühl – erstes bringt der anstrengende Job mit, zweites liegt an der Rush-Hour, die hier zwischen 12 und 14 Uhr tobt. Im Grunde sind alle mediterran entspannt und äußerst zuvorkommend. Im Nu kommt man sich wie in einem sympathischen Café Flores vor, beinahe, denn hier sind weiße Stoffservietten, Oliven und Nüsse zum Aperitif, Carafe d’eau obligatorisch und man kann sich kaum entscheiden ob Steak Tatar poêlé, Escalope Milanese oder doch den Thon à la plancha, alles lecker! Im Sommer sitzt man sonnengeschützt unter der großen dunkelgrünen Markise und wird von oben regelmäßig „brummisateurt“ – eine geniale Erfindung, quasi das Pendant zum Heizpilz im Winter, unter dem man auch gern im Dezember auf der Terrasse sitzt oder im von uns so getauften Orient-Express-Coupé – ein kleiner separater schmaler Saal, der ganz im Stil der 1920er Jahre gestaltet ist. Aber nicht nur wegen des leckeren Essen und schönem Ambiente möchte man hier Stunden verweilen, auch alles was hier beieinander sitzt oder an einem vorbei schlendert ist wie eine Darbietung auf einer Theaterbühne, man kann sich gar nicht lang genug sattsehen und sein Déjeuner, Dessert und Café verhaften.
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Bild: Thomas Kuball

Zeit für eine Siesta finde ich gerade nicht, muss ich mich ein bisschen beeilen, sonst schaffe ich es kaum noch rechtzeitig, um die französische Fliegerstaffel, die berühmte „Patrouille de France“, zu begrüßen, die dieser Tage ihr Können am Himmel über Marseille zu Besten gibt!
Ganz in diesem Sinne – Vive la France – liberté, égalité, fraternité et bonne vacances à tous!

PS: Und wenn ihr mögt, nehme ich euch die Tage mit an die Corniche von Marseille mit … eine Perle für sich!

Anmerkung
Der Beitrag wurde von Thomas Kuball verfasst, einem guten Freund und Stammleser – dem wir ganz herzlich danken!
Wir suchen übrigens noch weiterhin nach Gastautoren. Wenn auch Du mal Lust hast, einen Artikel auf Horstson zu veröffentlichen (mögliche Themenfelder: Mode, Politik, Kultur, Gesellschaft, Musik, Reise, Blog etc.), melde Dich einfach: horst@horstson.de

  • Elke Kempe
    15. August 2016 at 11:33

    Du hast ein wunderbares Bild einer Stadt gemalt,genauso habe ich den schönen Tag in Marseille mit Euch genossen ,einfach herrlich !Besonders das helle Licht hat mich bezaubert!☀️☀️☀️

  • thomash
    16. August 2016 at 16:33

    schöne stadt, schön beschrieben! und ein artikel für lange winterabende, wenn man anfängt, sich gedanken über den nächsten sommerurlaub zu machen und einen guten reiseführer sucht : -)

  • Siegmar
    16. August 2016 at 17:13

    Was für tolle Bilder und was für ein Einblick in die Stadt, besser als in jedem Reiseführer und macht so eine unglaubliche Lust auf die Stadt. Danke für diesen wunderbaren Beitrag

  • thomash
    18. August 2016 at 16:00

    ps: fantastische bilder obendrein!