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Hooklines …

„Der schlimmste Morgen danach war mit … Mir selbst.“* Bitte mal gegen die Fahrtrichtung denken! U-Bahn fahren gegen den Klimawandel – für mich eine der Erkenntnis reichen Lektionen des Dolce Vita in meinem Gastland. Was mir bei sporadischen Trips früher nicht aufgefallen war: hier sitzt man akkurat in Fahrtrichtung. Auch wenn es diagonal gegenüber für Beine und Po bequemer wäre. Menschen mit empfindlichen „Magennerven“ sollten in langen Bussen nicht ganz hinten sitzen, das kannte ich; also vermutete ich medizinische Gründe für die „Ich sitze-in-Fahrtrichtung-Beharrlichkeit“. Nach monatelanger Feldforschung, weiß ich es besser: man macht das so, da (fast) alle es so machen, so lange noch irgendwo eine Pobacke in Fahrtrichtung Platz findet.

„Die wahren Abenteuer sind im Kopf – und sind sie nicht im Kopf, dann sind sie nirgendwo …“** Haben wir nicht alle mal als Kinder im Fond der Autos unserer Familien zu gerne stundenlang hinten zum Fenster hinaus geguckt, gegen die Fahrtrichtung … dabei die Welt vor statt hinter uns weg fliegen sehen? Da wurden Wolkenformationen zu Riesen, Zyklopen und Ungeheuern um fantasiert … Schicksalsergeben in Fahrtrichtung auf die Hinterköpfe der Familie zu gucken, war viel zu langweilig.
Sind wir nicht als Teenager die größten Weltverbesserer unter der Sonne gewesen? Und wollten, so wie meine Schwestern und ich, lieber vom Affen, als von unseren (großartigen) Eltern abstammen?

Heute sind unter den besten „Freunden“ der Kinder: Mama und Papa! Menschenskinder, man merkt das auch stellenweise. Fünfundzwanzigjährige Frauen, mit dieser inneren Leere … und den Spuren des an-nichts-Denkens im Gesicht. Verstehe, da passiert ohnehin nicht mehr so viel bis zur Pension. Man lebt als hipsternder Digital Native in urbanen Räumen, das Hirn auf Dauerkreuzfahrt mit der AIDAblu. Und niemand will jungen Leuten, die nur noch um sich kreisen sagen: eher früher als später fährst du damit ungebremst gegen die Wand. Da draußen, in der wirklichen Welt, sitzt du nicht auf dem Pfauenthron, um den Eltern, Familie und Freunde wie um ein achtes Weltwunder herum tanzen, seit du zum ersten Mal einen Satz mit fünf Wörtern hinbekommen hast. Man kann Talent, Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht faken. Posing bleibt Posing und Exzellenz, Exzellenz.

Ich liebe es, wenn verantwortungsvolle Vorbilder (Erwachsene!) den Mut finden, klare Kante zu zeigen: ausgerechnet Louise Wilson, in deren Leistungsbilanz als Dozentin des Masterstudiengangs am CSM, Namen wie Alexander McQueen, John Galliano, Philo Phoebe, Hussein Chalayan, Christopher Kane, Sarah Burton, Zac Posen und Ricardo Tisci vorkommen, antwortete auf die Frage Robert Grünenberg’s (Portrait, Louise Wilson, Advokatin der Mode, Fräulein, 12/2103) „Wie erkennen Sie ein Talent?“ … „Ich bin kein Optimist. Es ist bislang selten vorgekommen, dass ich dachte, wow, hier ist ein Talent. Der Sinn von Bildung ist Lehren und Lernen. Würden alle hier mit „wow“ hinkommen, dann würde ich mich zurücklehnen und Wein trinken. Wir haben im schnitt 45 Studenten im gesamten M.A.-Studiengang (18 Monate Dauer). Es gibt immer 3 Studenten, mit denen ich gerne zusammenarbeite. Mit jungen Menschen zu arbeiten, ist kein Hexenprojekt, es ist einfach eine andere Generation und Interpretation. Aber, zum Teufel, wenn Studenten Mist produzieren, dann ist es eben Mist. Unternehmen fragen mich ständig nach Talenten, ich muss ihnen sagen, sorry, es gibt keine.“ (O-Ton Louise Wilson, Dozentin und Direktorin, CSM; lest bitte das ganze Interview, das ist großartig und sehr erhellend!)

„A Beautiful Lie …“*** Da höre ich schon die Sirenen so mancher Bloggerin aufheulen, die sich im Leser manipulierenden Kuschelkurs mit den grandiosen Talenten vor lauter Berlinlob total verfranst. Wie praktisch, wenn die Besten der Besten immer dort präsentieren, wo man selbst wohnt und in der Schau sitzt – Bilder von Backstage zeigen kann. Wenn Mrs. Wilson ihre weltweit bewunderte Talentschmiede mit diesem Fazit bilanziert, dann frage ich mich, was die von mir sehr geschätzte Christiane Arp anlässlich der MBFWB eigentlich an konstruktiver Kritik von sich zu geben hätte. Bin ich ein Mode-Marsmännchen, wohl kaum. Ich habe die Key Management Buyer der großen Modeläden der Welt, auf meiner Seite. Was mag das wohl heißen, wenn die Experten, die es schließlich wissen müssen, was in den Läden gesucht wird, „unsere Designertalente“ fast ausnahmslos ignorieren.

Es brächte die gute Sache der Talentförderung ganz gewiss weiter, wenn die paar Leute, die hierzulande was davon verstehen, mit klaren Worten die Erkenntnisprozesse der Labels und deren (manchmal vor Selbstbewusstsein platzenden) Kreativen beförderten. Das läuft in meiner Fantasie ja nicht auf Berufsverbote für Poser hinaus, aber bei den ganz wenigen, die wirklich was können, sollte man Energie und Mittel bündeln. Damit Deutschland auch mal eine stolze Modenation werden kann.

In jedem Fall wird der Prozess sehr arbeitsreich und mühsam. Gezeichnet von viel Schweiß und Tränen. „Kleidung herzustellen, sie zu verstehen, das ist ein furchtbar langer Prozess. Alles, was es ist, sind ein paar Werkstatttische und harte Arbeit.“ Sagt Louise Wilson.

SHOWstudio: Louise Wilson, In Fashion interview (entdeckt auf Nahtlos!)

This is ten percent luck / Twenty percent skill / Fifteen percent concentrated power of will / Five percent pleasure / Fifty percent pain / And a hundred percent reason to remember the name****

Now what the hell are you waitin for …***** und bitte ruhig mal gegen die Fahrtrichtung denken!

*Rade Petrasevic, **Andre Heller, ***30 Seconds To Mars, ****Mike Shinoda, Fort Minor, *****Chester Bennington, Linkin Park.

  • Wolfram
    16. Februar 2014 at 11:03

    @daisydora

    Dein Artikel spricht mir aus der Seele. Natürlich wollten wir alles besser machen und sind doch dabei im Mainstream angekommen. Ich arbeite seit 35 Jahren in dieser Branche, ich habe viele kommen sehen, aber viel mehr gehen. Ich war auf Messen, ob Düsseldorf, Berlin mit grandiosen Ständen, die z.B. in Köln auf der Interjeans, daraus entstand die Bread&Butter, Stände die hunderttausende DM gekostet haben und anschließend konnte meine Firma mein Gehalt nicht zahlen. Selbstbeweihräucherung der Branche, die da schon sehr zu kämpfen hatte. Karl-Heinz Müller brachte mit der B&B frischen Wind, unvergessen seine Camouflage lackierte Jaguar-Limousine, heute fährt die gut situierte Hausfrau im tarnfarbenen SUV zum Einkauf, selbst das ist im Mainstream angekommen. Wie in einem früheren Artikel von Dir schon mal beschrieben, die intuitiven Händler gibt es nur noch selten, teure Mieten, gleichgeschalteter Geschmack, man ist nur in, wenn man eine sofort erkennbare Marke trägt, fängt ja schon in den Schulhöfen an. Es ist noch nicht solange her, da konnte man den modischen Münchener vom modischen Hamburger unterscheiden, da haben angesagte lokale Händler den Trend in ihrer Stadt geprägt, auch die gibt es kaum noch, siehe Eickhoff, siehe Möller&Schaar, heute ist das durch Youtube und ähnlichem globalisiert, die Jugend sieht Berlin genauso aus wie in Frankfurt oder Istanbul, Blogger haben ihren Teil dazu beigetragen, Mädels himmeln Heidi Klum und ihr Format im TV an, merken nicht, dass sie da manipuliert werden. Gekauft wird dann bei den Kopisten, wie H&M,Zara und Primark, da ist es günstig und wenn es nicht gefällt, ab in den Mülleimer.Siegmar sagt mir, ich sehe, dass zu sehr aus der Sicht des Händlers, er findet eben auch in einer schwachen Kollektion ein schönes Teil, das mag ja sein, aber ist die Kollektion schwach, gibt es den Anbieter nächste Saison nicht mehr, der Einkäufer „Young Fashion“ von P&C ist ein guter Bekannter, sagte mir, wenn sie einmal einen wenig bekannten Designer in das Sortiment aufnehmen und das verkauft sich nicht, ist er für die nächste Saison „ausgelistet“, d.h. dass es kein Einkommen für den o. die Designer/in gibt, aber sie wollen auch überleben, also wird in Richtung Mainstream gearbeitet. Natürlich gibt es nach wie vor gute Leute mit neuen Ideen, nur haben sie es sehr schwer ihre Ideen zu verkaufen. Aber liebe Daisydora, wir stecken nicht auf und hoffen, dass sich das Blatt wendet.

  • Siegmar
    17. Februar 2014 at 11:33

    @ daisydora
    sehr guter Artikel, auch der Beitrag von meinen Bruder Wolfram.
    Trotzdem denke ich, das wir hier auch Talente haben, besonders in Berlin, siehe Hien Le. Es fehlt oft an Unterstützung durch die Medien, welche deutschen Modejournale berichten über die jungen Talente ?

  • Daisydora
    17. Februar 2014 at 11:45

    @Wolfram

    Ganz herzlichen Dank für diesen tollen, sehr gehaltvollen Kommentar, dessen Sichtweise der Branchenetwicklung ich absolut teile. Mit ganz so viel Erfahrung wie Du kann ich nicht aufwarten, schon gar nicht, wenn es um die Entwicklung in Deutschland geht. Aber ich habe miterlebt, wie alle Pret a porter buchstäblich aus allen Nähten platzen, so viele Labels werden gezeigt. Und die können nicht alle gut sein … und sind es auch nicht.

    Mwiner Ansicht nach liegt das in Deutschland auch daran, dass eben niemand Klartext mit den Designern reden will; Christiane Arp zeigt dann in ihrem Supplement, auf dem neben Paris, New York, Mailand und London groß Berlin steht, eben nur ganze acht Outfits deutscher Designer, neben hunderten der „Anderen“. Und das halte ich für falsch, die Tatsachen auszubleben..

    Ich gebe Siegmar recht: Es gibt in fast allen Kollektionen auch schöne Teile und es sind auch in grandiosen Kollektionen Teile enthalten, die an niemand gut aussehen … aber man muss das die MBFWB betreffend aus der Sicht des Einkäufers und Händlers, alsso aus Deiner sehen, denn die Läden der jungen Designer laufen ja nur, wenn die Distribution auf- und ausgebaut werden kann …

    Ich hoffe mit Dir/Euch, aber für mich sind Leute wie Ihr und wir in Deutschland eher Exoten. Man hat hier eben weniger Interesse an diesem Thema und man merkt ja auch vielen ModebloggerInnen an, dass sie in Familien und geschmacklich indifferenten Umgebungen groß geworden sind, in denen es einfach keine Stilvorbilder gab. Woher soll es dann kommen?

    Merci!, Wolfram … 🙂

  • Daisydora
    17. Februar 2014 at 11:52

    @Siegmar

    Sorry, hatet Dich übersehen, ich war schon so spät dran …

    Und Dankeschön, ja das finde ich auch, der Kommentar von Wolfram hat mich gefreut, weil das ja einer dieser sperrigen Daisy-Berichte ist, für die mich andere BloggerInnen und alle SchnullibloggerInnen mit ihrer gerade mal linearen und eindimensionalen Sichtweise von Mode inständig hassen …. aber ich habe ja fallweise mehr Glück, als Verstand und darf für „Euch“ schreiben …

    Klar gibt es in Berlin auch Talente, Hien Le und Andere …. die Talentförderung lässt sehr zu wünschen übrig, auch das Engagement der Presse … aber auf der anderen Seite werden die seltsamsten Labels hoch geschrieben … alles irgendwie sehr surril und auch nicht am Markt ausgerichtet …

    Danke, Siegmar! 🙂

  • Wolfram
    19. Februar 2014 at 11:01

    @ daisydora

    ich muss danken, für die Artikel, die ich auf Horstson lesen darf. Es ist der einzige Blog, den ich regelmäßig lese und vor allem der einzige, den ich kommentiere. Andere Blogs sind mir, wie Du es so treffend beschrieben hast zu eindimensional. Ich habe mir heute mal einiger der angeblich besten 20 deutschen Modeblogs angeschaut, dass erste was mir auffiel, dass da kaum Kommentare abgegeben werden, dafür wird dann für eine Handcreme geworben (LesMads), ich habe da eh Probleme, wenn ich im Impressum „Burda“ lese. Mir ist klar, das ein gut gemachter Blog Geld kostet, ich habe damit auch keine Probleme, wenn der Blog aber gänzlich von einen Verlag finanziert wird, geht die kreative Freiheit der Blogger/innen verloren.

  • Daisydora
    19. Februar 2014 at 11:54

    @Wolfram

    Merci! 🙂

    Wir sind ja Überzeugungstäter, machen das sehr gerne … Horst hat übrigens auf Styleranking ein sehr gutes Interview zum Thema der Rankings – oder besser gesagt, deren Manipulation, gegeben … und ich habe ihm gerade gemailt, dass ich es schade finde, dass das bei uns nicht erschienen ist oder bisher nicht erwähnt wurde, weil es der Leser wegen hierher passt und auch kommentiert werden würde …

    Das mit den Blogunternehmen, a la LeseMads, sehe ich auch ambivalent, obwohl man sagen muss, dass Katja Schweitzberger und Cloudy Zakrocki den Blog wesentlich transparenter und journalistisch sauber als Blogunternehmen führen, als die Gründerin Jessica Weiss (aus dem Gründer-Duo), davor. An sich ist das schon der richtige Weg, Blogs als gute Medienunternehmen zu führen. Aber ganz bestimmt nicht so, wie das hierzulande und auch in anderen Ländern geschieht. Da wird rauf und runter das abgefeiert, was an Goodies und Geld angeboten wird … und eine „Starbloggerin“ wie Chiara Ferragni, verlinkt nicht mal mehr zu Hermes, wenn diese eine Handtasche, die sie zu einem von Kopf bis Fuß geschenkten Outfit (unter hunderten, die auch geschenkt sind) trägt, kein Geschenk ist.

    LesMads „fehlt“ nur ein sehr erfahrener Autor, der eigene Themen setzen kann (machen die Verantwortlichen auch) ansonsten lese ich den Blog heute viel lieber, als früher. Auch, weil dort jetzt professionelle Umgangsformen herrschen und ein Dialog mit den Lesern geführt wird, wie sich das für eine Firma gehört.