Eurovision Song Contest

Pussys on fire und Deutschland war nicht Letzter

(Netta; Foto: Andres Putting)

Das Wichtigste zuerst: Deutschland ist nicht letzter geworden, sondern sogar vierter. Damit hat wohl weder Michael Schulte noch wir gerechnet. „You Let Me Walk Alone“ überzeugte die Zuschauer noch ein wenig mehr als die Jury und brachte ihm letztendlich 340 Punkte ein. Obwohl ich selbst kein großer Fan von Song und Performance war: Herzlichen Glückwunsch Michael! Und auch herzlichen Glückwunsch Netta, du Kreuzung aus Chun-Li, Björk und Manga Girl! Wir werden „Toy“ noch eine Weile weiterhören!

Schmachtfetzen und Schleim-Balladen

Aber sein wir ehrlich: Wenn der Abend nur aus Performances wie der von Michael Schulte bestanden hätte, wäre man wohl vor dem Fernseher eingeschlafen. Überhaupt waren die Balladen in diesem Jahr zum Teil so wunderschön, dass einem die Canapés wieder hochkamen. Nehmen wir zum Beispiel Spanien gleich zu Beginn. Amaia y Alfred waren so voller Lieber, dass es Ihnen aus den Ohren wieder rauskam. Zum Glück ist Amaia nicht auf der Schleimspur ausgerutscht. Das wäre dann doch schade ums Kleid gewesen. Außerdem gleich am Anfang zu sehen und nicht zu überhören: Ieva Zasimauskaite aus Litauen. Ganz zerbrechlich, allein und verloren startete sie ganz unten auf dem Boden der Bühne. Nachdem sie dann aber ein paar Mal den Mund richtig weit aufgerissen hatte und man den Atem anhielt, ob sie das Mikro nicht vielleicht doch aufisst, endete dieser unsagbar kitschige Song zu allem Überfluss auch noch mit ihrem Ehemann auf der Bühne. Hätte sie das Mikro lieber mal aufgegessen.

Irgendwo zwischen nuttig und französisch

Elina Nechayeva (Estland) im 8-kg-Kostüm; Foto: Thomas Hanses

Ganz wichtig natürlich auch in diesem Jahr: Die Klamotte. Wir Deutschen hatten wie immer diese unterschwellige Arroganz nach dem Motto: Wir haben es nicht nötig unsere Acts cool oder außergewöhnlich anzuziehen. Wir stellen den einfach in Pulli und Hose auf die Bühne. Der Song soll im Mittelpunkt stehen. Klar, nicht jeder muss ein komplettes Wandgemälde auf dem Kleid haben und Gläser zersingen (Estland), aber ein bisschen mehr Outfit hätte es schon sein dürfen. Davon hatte, wie bereits erwähnt, Estland mit 8-kg-Kostüm genügend. Finnlands Beitrag, optisch eine Mischung aus Dixie Chicks in der Garderobe von Ariana Grande, waren sexy, aber nicht slutty. Ganz anders sah es da in Zypern aus. Eleni Foureira sah aus wie aus einer Folge RuPaul’s Drag Race entsprungen. Kategorie: Pussy on Fire. Da der Song aber auch „Fuego“ hieß, war es dann letztendlich wenigstens thematisch rund. Moldavien, die mit ihrer Show mit am meisten unterhalten haben, waren auch in Sachen Outfit mit ihrem 50er Spirit on point. Nicht so on point war da Schweden. Und das, obwohl hier doch so viele tolle Modetrends herkommen. Es liegt natürlich nicht nur am Act selbst wie er sich anzieht. Aber wer immer den armen Benjamin Ingrosso so unvorteilhaft pseudomodisch eingekleidet hat, sollte zur Strafe ein Jahr lang Swedish House Mafia hören müssen. Da lobe ich mir die Franzosen. Die sahen beim Einzug auf die Bühne aus wie ein hippes Literaten-Ehepaar und auf der Bühne in Gaultier unaufgeregt sexy aus. Warum nicht gleich so? Und ja, das Outfit von Netta fand ich auch super. Es war vielleicht nicht wunderschön aber super abgestimmt und für den Beitrag super passend!

LGBT-Extravaganza

Performance zu „Together“ von Ryan O’Shaughnessy (Irland); Foto: Thomas Hanses

Auch in Sachen Diversity setzte der ESC dieses Jahr ein Zeichen. Nachdem China den irischen Beitrag aus der Übertragung strich, da beim Auftritt des Sängers zwei Männer Händchen hielten und sich tief in die Augen sahen, teilte die European Broadcasting Union (EBU) mit, dass die Zusammenarbeit mit dem chinesischen Streaming-Dienst Mango TV mit sofortiger Wirkung beenden werde. Mango TV, das zum staatlichen Sender Hunan TV gehört, konnte deshalb nun weder das zweite Halbfinale ausstrahlen, noch wird es das Finale zeigen dürfen. Finden wir gut und sollte nicht unerwähnt bleiben.
Es war somit ein gelungenerer Eurovision Song Contest als im letzten Jahr. Sei es in Punkto Kostüm oder auch Gesang. Und weil dieser Beitrag nicht ohne unsere Favoriten zu Ende gehen darf: Hier sind sie!

Netta x „Toy“ (Gewinnerin) Klicke hier.

Mikolas Josef x „Lie To Me“ Klicke hier.

Madame Monsieur x “Mercy” Klicke hier.

Cláudia Pascoal x „O Jardim“ Klicke hier.

  • Thomas Kuball
    15. Mai 2018 at 19:43

    Lieber Jan,
    danke für deine kleine Kolumne zum ESC 2018. Dieses Jahr war es wirklich grauenvoll und nach dem vierten „And our twelve points goooooo tooooo Israel!!!!“ aus- und fix ins Bett eingestiegen.
    Was waren das für aufregende Events in meiner Kindheit und frühen Jugend – vielleicht nur in der Erinnerung?
    Nein, sicherlich nicht, dafür kenne ich zu viele in meinem Alter, die auch damals Katja Ebstein, Vicky Leandros, Milk and Honey oder sogar schon Monaco Séverine gelauscht haben und die Auszählung, meist schon im Pyjama, noch schauen durften. Legendär natürlich 1974 ABBA mir Waterloo!
    Das Bühnenbild war adrett, das Orchester groß und die Abendgarderobe zeitgenössisch geschmackvoll und dezent.
    „Wild“, aber gleichzeitig gesellschaftsfähig wurden die Outfits erst mit dem Aufkommen von ABBA&Co in den 1970er.
    Was hat man sich jedes Jahr auf diesen Abend gefreut und mit großer Spannung seinem Favoriten die Daumen gedrückt.
    Irgendwann war es dann vorbei mit dem Drauf freuen, Daumen drücken und im Pyjama hocken. Bei mir hörte es mit Nicole und „Ein bisschen Frieden“ auf. Das generelle Ende des Grand Prix Eurovision de la Chanson kam mit der großen Osterweiterung, dem Zulassen von Nationen, die soweit weg von Europa liegen, dass sich doch jeder von uns an den Kopf gefasst und gefragt hat, was das noch mit Europa und Chanson zu tun hat. Letzteres wurde entsprechend mit der Umbenennung 2001 in Eurovision Song Contest quittiert und zwei Jahre zuvor wurde schon entschieden nicht mehr den Chanson in der jeweiligen Landessprache singen zu müssen. Miese Moderationen und Bühnenshows, die nur auf Effekthascherei aus sind und von der Unfähigkeit der Interpreten ablenken sollen. Von großartigen Vorentscheidungs-Events und Ausstrahlungen mal ganz abgesehen, die wohl hoffentlich keiner von uns je angeschaut hat!?
    Doch was ist es, was viele von uns seit geraumer Zeit jedes Jahr an diesem Samstagabend wieder vor den Fernseher zieht?
    Nostalgie? Die Hoffnung noch mal einen Welterfolg mitzuerleben oder das doch der Favorit doch gewinnt?
    Was auch immer es ist, ich mir am vergangen Samstag geschworen habe nie wieder an dieser miesen Veranstaltung teilzunehmen, aber jetzt schon weiß, dass Peter und ich im Mai 2019 wieder gemeinsam wie Waldorf&Stadler vor der Glotze sitzen werden und uns herrlich über Moderation, Performance, Outfits, Keine-Stimmen, miese Songs und einen unverdienten Gewinner auslassen werden…aber uns sicherlich nicht über einen verloren Abend aufregen!

  • JanWho
    15. Mai 2018 at 21:45

    Was für ein Plädoyer 🙂 Danke Thomas!

  • Reinhard
    15. Mai 2018 at 22:17

    Mir hat es ebenso gefallen!

  • kuball thomas
    16. Mai 2018 at 15:15

    Sehr gern, Jan
    …und bei der Vorlage