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„Lolitas im Drogenrausch“ x Mode ist Wirklichkeit!

Selbst die Grande Dame der Modekritik, Suzy Menkes, wusste Anno 1994 noch nicht genau, wen sie da vor sich hatte … Als Tom Ford im Herbst 94 erste Mod-Designs in der Gucci-Schau zeigte, quittierte Mrs. Menkes die Models in ihren weißen Etui-Minis und auf Stilettos, die Mr. Ford aus dem klassischen Gucci-Loafer entwickelte, in der International Herald Tribune als „Lolitas im Drogenrausch“.
Was nichts daran änderte, dass es dieser Moment war, der Designchefin Dawn Mellows zum Rückzug brachte, Tom Ford an die Spitze des Gucci Designs, ihm und dem „Designstudio“ die für die Erneuerung der Marke nötige Freiheit gab.
Wollte man den bestmöglichen Creative Director für eine am Boden liegende Luxusmarke Anfang der Neunziger erschaffen, der neben den Entwürfen der Kleider sein bester Marketing Supervisor, ein Trendscout, strategischer Planner, ein Motivforscher und sein eigener Pressesprecher ist, es kommt immer Tom Ford dabei heraus …

Man sagt ja, eine der beiden Gehirnhälften dominiert unser Wesen und Tun, die Talente und Fähigkeiten. Man ist nicht Ingenieur, Vertriebschef, Buchhalter und Künstler zugleich … trotzdem scheint es ausgerechnet in der Mode diesen Typus Hybrid zu geben, Karl Lagerfeld war der Erste, Tom Ford dazumal der jüngste und beste.

Seinen amerikanischen Pragmatismus hatte er während der Ausbildungsjahre in der Seventh Avenue in New York im Tagesgeschäft bei Perry Ellis erprobt; dann zog es ihn nach Europa, Gucci war so gut wie am Ende, als Dawn Mellows den jungen Kollegen ins Team berief. Man muss sich das bildlich vorstellen: In einer der ersten Shows präsentierte Ford einen einzigen Schuh, den Gucci-Clog, und es gab für die Models nur insgesamt sechs Paar dieser Schuhe … je zwei in Schwarz, Beige und Rosa. Im fliegenden Wechsel zog ein Model nach seinem Abgang die Schuhe aus und das nächste schlüpfte hinein.

„Ich bin ein kommerzieller Designer. Darauf bin ich stolz. Ich wollte nie etwas anderes sein. Wieder und wieder habe ich gesagt, dass ich mir diese Branche ausgesucht hatte, um Frauen schöner zu machen. Und dabei kommt es darauf an, den Moment zu nutzen. Wie finde ich heraus, was eine Frau sich als nächstes wünschen wird …“ So, Tom Ford zu seiner Ausrichtung als Kreativer.

Er hatte sich in Florenz in die Marke und ihre aus den Siebzigern stammende Jetset-DNA so lange versenkt, bis er sicher war, dass es richtig sei, dort anzuknüpfen und trotzdem einen eigenen Weg einzuschlagen. Ihm war klar, ein echtes Gucci Revival musste eher auf soliden Zahlen, denn auf Verehrung gründen. Zuerst musste er herausfinden, was die Menschen wollen … und schon in seiner ersten Show als Chefdesigner, das war Anfang 1995, war nach der ersten Verbeugung nach der Show klar, dass Tom Ford nun ein Star war.

Die Rückschau auf ein Ereignis vor so langer Zeit, gibt sicher einigen hier und mir die Gelegenheit, sich zu erinnern zu versuchen, ob man das damals sofort gemerkt hatte, was so vollkommen neu und großartig war. Wir hatten ja den Grunge noch nicht überstanden und Hedonismus und das Schwelgen in Luxus waren nicht eben in Mode.

Aber schaut einfach selbst; jeder ab dem „richtigen“ Alter erinnert sich an Amber Valetta in diesem Mohairmäntelchen zum Seidenstretchhemd und den Hip Huggers aus Samt, oder?

„Gucci“ Autumn/Winter 95/96 Milan … Teil I

Drei weitere Teile kommen dann am Ende, die jüngeren Leser kennen diese Show vermutlich noch nicht … Damit wurde eine neue Ära eingeläutet, in der Gucci großen Einfluss auf das Geschäft mit Mode hatte. Den Einfluss von Tom Ford. „Ich fühlte mich, als liefe ich aus einem dunklen Tunnel auf etwas Neues und Aufregendes zu …,“ sagte Ford … „für mich war es ein Riesenschritt in die richtige Richtung.“

Fords Nachdenken über das Wesen des Berühmtseins – Kooperationen mit Stars, all das hat Gucci zu der Marke der Neunziger gemacht. Im Sog des Erfolges von Tom Ford wurden andere junge Designer berufen, Marc Jacobs ging zu Louis Vuitton, Michael Kors zu Celine, Narciso Rodriguez zu Loewe, John Galliano zu Givenchy und später zu Dior und Alexander McQueen folgte auf Galliano bei Givenchy … Die jungen Designer demokratisierten die Mode. Accessoires und Düfte wurden zu den Einstiegsdrogen für Kundinnen, die sich ein Outfit erst mal noch nicht kaufen konnten.

Als Madonna dann bei den VH1 Awards mit Big Hair in seinen tief sitzenden Hüfthosen erschien, zeigte sich, dass die Idee, Prominenz in den Mittelpunkt des Gucci Revivals zu stellen, brillant war. Man fragte Madonna vor laufender Kamera, was sie da tragen würde, und sie antwortete: „Gucci, Gucci, Gucci!“ Damit begann alles.

Wenn ich die Schau für den darauf folgenden Winter heute gucke, sehe ich mich in diese Zeit versetzt, in der die Branche wusste: Tom Ford hat der Mode den Hedonismus zurück gebracht, neu gemacht und auf der Höhe der Zeit interpretiert … ohne Gucci zum Klon der eigenen Marken-DNA zu machen … alles war so frisch und modern, die weißen Kleider kann man heute noch tragen … und bekäme oder bekommt dafür gleich viele bewundernde Blicke und Komplimente.

Wer mag, schaut rein … einige der besten weißen Kleider der Modegeschichte an den richtigen Frauen: Georgia Grenville, Kirsty Hume, Guinevere van Seenus, Chandra North, Carolyn Murphy und Kate Moss …

„GUCCI by TOM FORD“ The fabulous white dresses 1996

Man muss nicht extra dazu sagen, dass auch Suzy Menkes Skepsis der Anerkennung für diese Leistung gewichen war. Auch wer nicht alle seine Ideen leiden mag, dieser frische Zugang zur Mode, der ihn immer wieder die richtigen Dinge sagen und tun ließ, den könnte so mancher der jungen Kollegen von heute gebrauchen.

Ford sieht Mode als Zuschauersport. „Einige machen mit und viele sehen zu.“ … „Die Modebranche basiert auf absichtlich Nutzlosem!“ „Es amüsiert mich, wenn mich Leute fragen, ob Mode und Business vereinbar seien. Mein Ziel als Modedesigner ist es, etwas zu kreieren, von dem Menschen glauben, es haben zu müssen. Wenn sie es unbedingt haben müssen, dann kaufen sie es. Wenn sie es kaufen, machen wir Umsatz. Und mit Umsatz läuft das Geschäft.“

Tom Ford ist Realist. Das sollte man vielleicht als junges Talent verinnerlichen, dass es das ist, was gute Mode auch wirtschaftlich erfolgreich macht. Nicht das Talent alleine ist entscheidend, ohne die Gabe, die Motive von Kunden (Frauen und Männern) in jeder Saison auf den Punkt zu bringen, und sich nicht in Fantasien zu flüchten, bleibt der Erfolg oft aus. Beispiele dafür gibt es zuhauf. Solche, von Marken, die von den wenigen Tom For’d und Lagerfeld’s dieser Welt gerettet wurden, nur wenige.

„Eines der vielen Talente, die Tom Ford als Designer besitzt, ist die geheimnisvolle Aura, mit der er, Saison für Saison, die außergewöhnliche Wandlung von Gucci und Yves Saint Laurent umgab. Ich ging zu seinen Shows und erwartete Überraschung und Entzücken – keine Selbstverständlichkeit, wenn man so viele Shows besucht, wie ich –, und jedes Mal erlebte ich genau das. Trotzdem habe ich keine Ahnung, wie ihm das gelungen ist. Worin besteht das Geheimnis seiner unerschöpflichen Erfindungsgabe, seines untrüglichen Gespürs für die Provokation, die zeitgenössische Mode idealerweise auszeichnet?“ Anna Wintour

Es ist der Designer, der dem Unternehmen Persönlichkeit verleiht. Gut nachzuvollziehen an der Mühsal der Labels, die ihre Kollektionen ohne einen Namen oder als Team präsentieren. Das, worum es bei Gucci in den Neunzigern und bis zum Ausstieg mit Partner Domenico Del Sole 2003 ging, hatte der Markenerneuerer Ford der Welt gezeigt: „ … bei Gucci ging es immer darum, hochelegante, sehr glamouröse, schöne, schicke und gepflegte Frauen und Männer zu kleiden.“

Mode wirkt als Stimmungsaufheller, sie verjüngt. Auch wenn man schon alt ist, kann man sich mit einem schönen neuen Anzug, einem Kleid und ein paar glänzenden Schuhen an den Füßen wieder attraktiver und um einige Jährchen jünger fühlen. Tom Ford war immer schon der Meinung, wir sollten uns alle bemühen, gut auszusehen … weil diese kleinen Bemühungen auch unsere Psyche beleben. „Und das ist der Beitrag der Mode zur Lebensfreude!“ … sagt er ganz kurz.

Als Tom Ford verkündete, dass keine Einigung mit Jean-Henri Pinault (damals noch PPR, heute Kering) erzielt wurde und die letzten Shows für Gucci und Yves Saint Laurent stattfanden, war er auf dem Titel der New York Times. Und der Hof, den er seinen Nachfolgern übergab, war bestens bestellt.
Tom Ford: „Mir gefällt der Gedanke, dass ich Mitte der Neunziger der Mode wieder einen gewissen Hedonismus verliehen habe. Sexualität ist in meiner Arbeit stets gegenwärtig!“ … aber auch dieser hier ist von Mr. Ford: „Es mag seltsam klingen, aber ich finde Menschen nackt schöner als angezogen. Man kann nur auf eine Weise nackt sein, aber es gibt tausende Möglichkeiten, sich schlecht anzuziehen.“

„Gucci“ Autumn/Winter 95/96 Milan … Teil II

„Gucci“ Autumn/Winter 95/96 Milan … Teil III

„Gucci“ Autumn/Winter 95/96 Milan … Teil IV

Wer wie ich ein ziemlich großer Ford-Fan ist (unter anderem auch deshalb, weil er sagt, nett sein ist bei Menschen in seiner Umgebung das Wichtigste!), dem empfehle ich noch das hier: Tom Ford: Ten Years by Graydon Carter & Bridget Foley.

PS: Zu dem Bild am Ende, Liliana Domnguez, in der berühmten und sehr begehrten YSL Bauernbluse, gibt es eine kafkaeske Geschichte: „Die Macht der Mode kann erschreckend sein. Am 11. September gingen in unserer New Yorker Boutique von Yves Saint Laurent 42 Anrufe von Frauen ein, die unsere Bauernbluse wollten,“ so Tom Ford.

  • peter
    15. November 2013 at 13:40

    Super!!Und Tom ford hat mit Gucci wirklich in den Neunziger Jahren eine völlig neue Sicht auf Mode vermittelt!!!Die Geschichte am ende ist eine meiner Lieblings Geschichten!!!Tausend dank für den tollen Artikel!!

  • Markus Brunner
    15. November 2013 at 14:45

    wow, sexy tom kann es eben

  • Siegmar
    15. November 2013 at 15:24

    toller Artikel, Tom Ford ist für mich der Inbegriff für Coolness und ganz grossartig finde ich seine Entscheidung, seine Kollektion wieder einen ausgesuchten Kreis zu zeigen und erst dann an die Öffentlichkeit zu bringen. Gucci mit Tom Ford war für mich einschneidend, ich besitze heute noch Hemden aus dieser Zeit und finde die immer noch sehr modern und die Qualität ist traumhaft. Einer der wenigen die in allem „gut“ sind.

  • Daisydora
    15. November 2013 at 17:03

    @peter

    Ich danke Dir … Menschenskinder, da waren wir schon dabei 😉 … ab und zu braucht man das glaube ich, daran zu erinnern, was gut funktioniert hat und trotzdem nicht nur kommerzeilles Kalkül verfolgte …

    @Markus Brunner

    Genau, und das ohne Übertreibung 🙂

    @Siegmar

    Dankeschön 🙂 … mir gehte s da ähnlich wie Dir … niemand davor und niemand danach hat mich ähnlich überzeugt mit Teilen und ich bin glücklich über jedes einzelne Stück …. für mich ist er auch der Inbegriff der Coolness, weil er überhaupt nicht chichi ist und so viel kann und weiss, wie der ganze Modezirkus läuft und seine Tom Ford Linien finde ich allesamt großartig, weil er vorher drüber nachgedacht hat, was noch fehlt …

  • vk
    17. November 2013 at 19:39

    schoen geschrieben. – nachvollziehbar auch fuer mich. und ich hasse tom ford. – oder besser: seit seinem wunderbaren film ist er eine art enigma fuer mich. – ich kenne ueberhaupt sonst niemanden, der solch auralose produkte schaffen kann. sein zeug lebt nie. vielleicht, weil es zu vielen herren dient – …TF „der neben den Entwürfen der Kleider sein bester Marketing Supervisor, ein Trendscout, strategischer Planner, ein Motivforscher und sein eigener Pressesprecher ist“ …
    vielleicht liegt es daran, dass alles was r anpackt wesenloses und damit in seiner essenz wertlos sein muss.
    loeblich finde ich seine erkentnisversuch ‚ich bin ein kommerzieller designer‘. – ein kommerzieller ist er sicherlich. ein designer aber eben gerade nicht.
    wer nichts zum leben erweckt, soll zu hause bleiben.
    ganz erstaunlich. dennn als regisseur kann er ganz wunderbare arbeit leisten.

  • PeterKempe
    17. November 2013 at 21:09

    @ vk
    Diese Seelenlosigeit empfinde ich auch ganz stark bei seiner eigenen Kollektion! Ich fand in der Gucci Zeit, merkte man, dass er in Paris lebte und dieses verklemmte amerikanische abfiel…. Seitdem er wieder „nur“ Amerikaner ist, finde ich das genau wie – du es hat dieses verklemmte unnahbare … und abwaschbare! Schön, aber es erobert einen nicht!
    Die Gucci Zeit war der Hammer, da hat er wirklich ganz anders agiert! Die Sachen sind, wenn ich sie aus dem Schrank hole, immer noch umwerfend! Wie so immer gültige Items!

  • monsieur_didier
    18. November 2013 at 09:17

    …Peter + VK…
    interessante Sichtweise, habe ich so noch nie in Worte kleiden können, aber ich denke, das bringt es auf den Punkt…
    die Produkte (!) sind perfekt und seelenlos produziert…
    austauschbar und ohne Leben…

  • Daisydora
    18. November 2013 at 10:28

    @vk

    Mir wäre geholfen, wenn ich verstünde, was Du bei einem Creative Director in der Mode als sellenlos bezeichnest … beziehungsweise, worin besteht oder offenbart sich denn die „Seele der Kreativen“, die Du gut findest (in der Mode) … und wer sind die Seelenvollen? nur dann kann ich da etwas antworten oder erwidern. 🙂

    Hier zu den Fakten: Gucci gäbe es heute wahrscheinlich nicht mehr, wenn Tom Ford kein außerordentlich guter Designer wäre, einer der besten der Welt. Moderne Frauen, deren Klamotten nicht von Sugar Daddies oder bestverdienenden Männern bei BlueChips oder Medienunternhemmen bezahlt werden, haben keene große Lust, sich als Puffmutter oder ähnliches zu verkleiden … auch darauf nicht, modisch gesehen das ganze Jahr Karneval zu feiern und wenige Designer haben das so gut erkannt, was moderne Frauen wollen, wie Tom Ford. Klar bleibt das trotzdem Geschmackssache, aber ich habe jede Kollektion im Kopf und da war eine besser, als die andere … und ich mochte Gucci davor gar nicht .. ich würde auch heute nicht mal für Geld Loafers und ähnliches Tragen, weil ich diese Teile sturzlangweilig finde.

    Nun gut, Du wirst Deine Grümde haben, aber ich gehe in diesen Dingen immer davon aus, dass jemand, der so erfolgreich ist, nicht schlecht sein kann und dann kommt dann ja auch noch dazu, dass sich die gesamte Fachwelt, inklusive Anna Wintour, Kollegen und Kolleginnen geirrt haben …

    @PeterKempe

    Auch wenn das Kritik auf sehr hohem Nievau ist, weil sie von Dir kommt, bin ich da ganz anderer Meinung … auch was die amerikanischen Designer anbelangt, die ich als modern und nicht als verklemmt empfinde … 🙂 .. aber, man muss ihn und seine Arbeit ja nicht mögen … ich liebe das Talent und auch den Fakt, dass er nicht prätentiös ist, sondern einfach macht und das sehr gut.

    @Monsieur_Didier

    Auf der Suche nach der Seele, und ich weiss noch immer nicht, was damit gemeint ist, aber vielleicht ist das der Moment, in dem ich erkenne, dass ich davor nichts erkannt habe 😉

  • Siegmar
    18. November 2013 at 11:46

    @ VK und Peter

    ich kann in jedem Punkt nur Daisydora zustimmen und verstehe ebenfalls nicht die Gedankengänge bezüglich der seelenlose Teile. Tom Ford als Nicht-Designer zu bezeichnen ist für mich schon eine überhebliche Behauptung. Er hat unteranderem bei Gucci so moderne Teile entworfen, wie z.Bsp. das weiße Kleid, er hat die Mode zu der Gucci-Zeit modern gemacht und gezeigt wie man ein Haus wieder ganz nach oben bringt.
    Lieber Peter, ich weiß das du Paris sehr liebst, aber ausserhalb von Paris findet auch noch Mode statt und Tom Ford beweist auch mit seinen aktuellen Entwürfen das er ein ganz großer ist.
    VK man muss jemand nicht mögen, zu sagen “ ich hasse Tom Ford “ finde ich schon sehr grenzwertig.

  • vk
    18. November 2013 at 12:23

    pass upp, ich sachs ma so…
    das ‚metaphysische‘ kann man natuerlich auf unterschiedliche arten anreiten. die liebste ist mir, wie geschehen, ne kraftvolle behauptung in den raum zu stellen, zu der sich dann andere verhalten. dann koennen auch sone abgespacten kategorien wie ’seele‘, ‚leben‘, ‚wesen‘, ‚aura‘ auf einmal ganz handfest werden. – die macht des intersubjektiven konsens. tolle sache.
    meine grundsaetzliche position zum thema kann ich auch mit den gedanken des wunderbaren soziologen georg simmel http://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Simmel illustrieren.
    in seiner ‚philosophie des geldes‘ (1900) analysiert simmel die welt beim uebergang in das moderne zeitalter gepraegt von arbeitsteilung, geldwirtschaft, rationalitaet etc. – diese neue welt wird und viele freiheiten bringen, sie kommt aber auch mit einem klitzekleinen, trozdem nicht unwesentlichen schatten: die dinge, die uns umgeben, werden jetzt industiell gefertigt. sie kleckern, quasi als abfallprodukte, hinten vom fliessband ingenieurtechnischen und oekonomischen kalkuels. – das ‚wesenhafte‘, so simmel, das man beispielsweise einem handgefertigten stuhl so leicht ‚anfuehlte‘, es sei in dieser neuen welt fuer immer verloren. und ist es nicht gerade das wesenhafte in allem, was uns umgibt, so simmel weiter, das wir, vielleicht nicht immer mit sachlichem recht, von allen dingen erwarten…
    simmel war ein flaneur, wohlhabend war er und ein feinnerviger und riskanter beobachter.
    fuer dieses von simmel so zart wagend konstatierte defizit lassen sich auch zwei grosse beweislinien in der kunstgeschichte finden. zum einen der jugendstil, der in der theorie gerne subsummiert wird als der ‚hochgegriffene versuch, waren industrieller masserfertigung durch anfuegungung vegetabiler ornamentik zu beleben‘. ein vielleicht etwas unbeholfener versuch auch, den an vielen objekten dieser zeit laesst auch das bluetenmeer die bedingungen seiner fertigung nicht immer verdecken. man sieht die gussnaht. das ding bleibt damit, um mit simmels mass zu sprechen ‚fragmentarisch‘, dh ’seelenlos‘ – das gegenteil eben von dem ‚ganzen, das mehr ist als die summme seinr teile’…
    beweisstueck zwei: ‚kunst und technik – eine neue einheit‘ – das bauhaus natuerlich, wo in mitten einer beispiellosen weltkrisen- und weltkriegszeit eine gruppe von vollkommen durchgeknallten helden, sich der, wie sie meinten, vornehmsten und vordringlichsten aufgabe zu stellen: unserer alltagswelt, wuerde wesen und zauber zurueckzugeben. und sie taten das, indem sie industrielle produktionsprozesse vollstaendig kuensterlerischer leitung unterstellten. – gegen das fragmentarische! – fuer das wesenhafte! – fuer das DU im ding!

    und dieses ‚DU im ding‘, was simmel als sentimentalresiduum vergangener zeit mit einer halben traene beweihnte, es ist im 20.jhdt – nochmehr im 21.jhdt – zu einem bedeutenden wirtschaftsfaktor, zu einer grossn kraft geworden. – es ist das, was heute mehr denn je den unterschied macht. – es ist das, wofuer sich design- und modegeschwaetz lohnt. – es ist das, wofuer sich streiten lohnt, weil es unsere welt lebenswert macht.

    i’ll rest my case, ladies and gentlemen, und danke fuer die aufmerksamkeit.

  • Siegmar
    18. November 2013 at 13:34

    Vk
    interessant mit Georg Simmel zu antworten und zum “ Bauhaus “ bin ich ganz anderer Meinung, aber gut 😉

  • Daisydora
    18. November 2013 at 14:21

    @Siegmar

    Gut, dass ich immer hoffen kann, dass Du mich verstehst … 😉 dankeschön …

    @vk

    Unbenommen, das ist sehr interessant, womit Du hier aufwartest, aber da bewegen wir uns in zwei vollkommen verschiedenen Universen. Ich liebe die Realität und halte Mode nicht für ein Ausdrucksmittel von Philosophie und Kunst, außer, der Kreateur will das ausdrücklich so haben … und, in Teilen ist Couture natürlich Kunst, wenn auch Handwerkskunst, entstanden aus einer überbordenden Vorstellungsgabe und Fantasie und einem Überfluss an Mitteln und Möglichkeiten …

    Bei der Pret a porter, von der wir hier reden, würde ich mir wünschen, es gäbe mehr Designer, die begreifen, dass diese Versatzstücke, Zitate und so weiter, mit denen bewiesen werden soll, dass der Designer künstlerisch bedeutendes zu schaffen vermag, beherzt relativiert werden würden.

    Am Ende geht es doch nur darum, dass man, wenn man viel Geld für ein Kleid ausgibt, darin schöner als in einem anderen Kleid, das man schon hat, aussehen will. Und das ist leider etwas, das viele (gerade auch junge) Designer lange nicht oder nie begreifen. Ich will nicht aussehen, als wäre ich auf dem Weg zum nächsten Bal Pare … und das nur, damit irgendwer da draussen findet, dass der Designer Kollektionen mit Sinn und Seele fabriziert. Ganz sicher schließt das Eine das Andere nicht aus, aber ich vermute, Dir gefallen einfach andere Stile und das ist auch Dein gutes Recht, das so zu sehen. Das vermindert nicht die Relevanz dessen, was ich hier nur deshalb beschreiben konnte, weil Tom Ford ein verdammt guter Designer ist … und alles andere On-Top beherrscht

    Gerade darum ein Hoch auf die Verschiedenheit der Geschmäcker und noch eines auf Mr. Ford! Und Merci für die Mühe, mich hier ins Bild zu setzen,

    🙂

  • vk
    18. November 2013 at 16:52

    DD,
    vollkommen muehelos und mit vergnuegen und gewinn.
    herzliche gruesse!

  • monsieur_didier
    18. November 2013 at 19:29

    …die großartige Vivienne Westwood hat Mode und ihre Strömungen uns Stile mal in „warm“ und „kalt“ eingeteilt…
    Mods waren für sie z.B. „kalt“, Hardrocker waren „warm“…
    vielleicht trägt das etwas zum Verständnis bei…

    wenn es um Designer geht ist Tom Ford für mich „kalt“…
    perfekt bis ins kleinste Detail, sehr sehr wertig und edel,
    aber irgendwie „kalt“…

    werte Daisy, Wir müssen ja nicht immer einer Meinung sein…
    das sind Wir doch wahrlich schon sehr oft… 😉

  • PeterKempe
    18. November 2013 at 19:32

    @ alle
    Vielleicht habt ihr mich missverstanden und Kommentarkästen sind nicht mein Medium der Erklärung … ich meine nicht seine Zeit bei Gucci und auch nicht die Anfänge bei YSL sondern die „Jetzt“-Zeit.
    Das werd ich euch mal in einem richtigen Text erklären was ich meine. Das Design außerhalb von Paris stattfindet ist mir klar! Das ihr meine Sicht der Mode auch sehr gut kennt, beinhaltet auch, dass ich Tom Fords Leistung bei Gucci liebe … sonst hätte ich ja nicht mehrere Dutzend Key-Pieces seiner Kollektionen aufbewahrt und trage sie auch noch heute … Also keine Aufregung – ich bräuchte mehr Raum, um das zu erklären!

  • Daisydora
    19. November 2013 at 11:06

    @Monsieur_Didier

    In der Tat, das müssen wir nicht und Vivienne Westwood ist ohnehin gleich die nächste auf meinem Zettel … aber wenn glatt, kühl und modern mit kalt assoziiert wird, dann passt das schon irgendwie … 😉

    @PeterKempe

    Merci für den Nachtrag 🙂 … ich finde das ja sehr spannend hier in den Diskurs zu gehen und suche mir gleich einige Teile aus der Tom Ford Kollektion raus, um drüber zu schreiben … da ist ja viel Opulenz, nur ganz anders als in Paris und das ist gewiss kulturell bedingt, dass er nicht alles mit Jahrhunderten der Modegschichte überfrachtet … Bin schon sehr gespannt auf Deinen Bericht!

    @vk

    Auch von mir herzliche Grüße! 🙂

  • Siegmar
    19. November 2013 at 12:22

    Lieber Peter das wissen wir doch und ich denke das ist auch verstanden worden